30 Minuten Crashkurs Wiener Walzer

Alle Bewegung macht Spaß, insbesondere die nach Musik, der Tanz. Tanzformen gibt es viele, aber es gibt gerade eine Tanzform, in der man sich nur als Paar bewegt, in der Bewegungen möglich werden, die man allein nicht ausführen kann. Auch wenn man auf Bewegungsformen verzichten muss, die eines Abstands vom Partner bedürfen, gewinnt man eine Bewegungsfreiheit, die ohne Partner nicht erreicht werden kann. Wir reden von der Tanzform, die etwas herablassend Standard genannt wird. Die Herablassung ist aber nur ein Zeichen für den Mangel an einem Wissen, das sich auf einer übervollen Fläche nicht erwerben lässt. Standard ist die Premium-Sektion. Keine andere Tanzform kann bieten, was Standard kann. Als Paar, als Körper mit vier Beinen und zwei Dickköpfen rauscht man mit Vollgas über die Fläche. Wir beginnen mit dem Wiener Walzer, dem einfachsten und natürlichsten dieser Tänze, die mit Vollgas getanzt werden können. Lassen wir uns nicht beirren von dem trübseligen Anblick, den das öde Geschaukel und Geschunkel auf vollen Flächen und im Publikum der Pseudovolksmusik-Sendungen bietet. Der Wiener Walzer ist ein Vollgas-Tanz, als Vollgas-Tanz hat er sich eingeführt, und das hat vor 200 Jahren so begeistert, dass der Walzer ein ganzes Jahrhundert berauschen konnte.

Unsere Ururgroßväter haben den Walzer in kürzester Zeit gelernt. Sie haben sicher auch nicht bis drei gezählt oder eine Box auf der Stelle getanzt, wie man es in den Tanzkursen beginnt. Das erfordert viel zu viel Geduld und führt nicht weit. Sie haben sich gedreht, und das Drehen geht am besten, wenn man eine gerade Linie entlang tanzt. Die gerade Linie führt ihrerseits dazu, dass sich das Setzen der Füße und das Drehen zum Schluss von ganz allein ergibt, wie wir gleich sehen werden. Wir proben die ersten drei Übungen jeder für sich allein, Tanzhaltung kommt später dran.

Erste Übung: Wir beginnen mit einem Schritt auf jeden Takt. Das ist (bei 60 Takten pro Minute) ein ganz gemütliches Tempo, nur halb so schnell wie ein Marsch, richtig gelatscht. Also machen wir Schwung, gehen zum Taktschlag etwas ins Knie und schwingen uns zum Anhalten wieder hoch: Wenn wir das richtig machen, haben wir Schwierigkeiten, die Balance zu halten, ohne uns mit dem anderen Fuß abzustützen. Zunächst wollen wir versuchen, dieses Abstützen zu vermeiden. Wir spüren vielleicht schon, dass uns bereits jetzt der Schwung etwas aus der Vorwärtsrichtung zu drehen versucht. Wenn wir Schwung geben, müssen wir natürlich immer etwas warten, bis der nächste Taktschlag kommt, und bei diesem Warten beginnen wir zu wackeln, wenn wir uns so luschig (englisch: cool) wie gewohnt halten. Etwas Spannung also in den Körper, und das Wackeln wird beherrschbarer. Üben wir noch ein wenig.

Zweite Übung: Wieder ein Schritt pro Takt, aber nun lassen wir auf jeden Schritt eine halbe Drehung zu, also rechtes Bein vorwärts über die Ferse auf den Ballen und dann eine halbe Drehung nach rechts, danach linkes Bein rückwärts auf den Ballen und wieder eine halbe Drehung nach rechts, immer schön auf dem weißen Strich lang, wie bei der Alkoholprobe, nur eben am Ende jeden Schrittes eine halbe Drehung auf dem Ballen. Zeit haben wir genug, eine Kippelei wird es am Anfang dennoch. Gestatten wir uns also, uns mit dem anderen Fuß etwas abzustützen, auch wenn der im nächsten Schritt wieder dran ist. Also: Rechtes Bein vorwärts, eine halbe Drehung auf dem rechten Ballen, mit dem linken Fuß leicht absichern. Linkes Bein rückwärts, eine halbe Drehung auf dem linken Ballen und mit dem rechten Fuß leicht abstützen. Das geht nun schon sehr viel leichter. Auch hilft es sehr, wenn wir jetzt die Spannung im Körper etwas deutlicher ausbilden. Ein festgekochtes Ei dreht sich eben besser als ein rohes. Üben wir das ein wenig, und achten wir darauf, auf dem eingebildeten weißen Strich zu bleiben.

Dritte Übung: Wir wiederholen das Vorige, geben aber nun vorwärts (wenn das rechte Bein dran ist) so richtig Gas, immer schön mit Schwung durch das leicht gebeugte Knie, damit wir keinesfalls von oben in den Schritt fallen (das wäre gerannt und nicht getanzt). Wenn wir uns nun mit dem linken Fuß abstützen wollen, können wir ihn einfach nicht mehr neben den Fuß stellen, auf dem wir drehen. Wir müssen ihn weiter in Tanzrichtung absetzen, sonst fallen wir um. Tun wir also genau dies und lassen aus dem Abstützen einen Schritt zur Seite (immer noch auf den weißen Strich!) werden. Nun müssen wir aber genau mit diesem linken Fuß rückwärts. Damit dieser wieder frei wird, ziehen wir den rechten Fuß, auf dem wir eben gedreht haben, schnell nach und lassen ihn wieder das Gewicht übernehmen. Rückwärts geben wir nicht so viel Gas, aber ein wenig können wir auch hier das Abstützen mit dem rechten Fuß in Tanzrichtung verlagern. Wie im Vorwärtstakt holen wir den linken Fuß, auf dem wir gedreht haben, schnell hinterher, damit er das Gewicht wieder übernehmen kann und der rechte Fuß, auf dem wir uns abgestützt haben, für den anstehenden Vorwärtsschritt wieder frei wird. Üben wir das wieder, und achten wir darauf, auf dem eingebildeten weißen Strich zu bleiben. Wer es noch nicht gemerkt hat: Wir führen jetzt drei Schritte pro Takt aus, ganz ohne zu zählen, weil sich das einfach so aus der Bewegung ergibt.

Jetzt kann es endlich zu zweit losgehen. Einer fixiert mit seinem rechten Arm den Raum, in den sich der Partner stellen soll und in dem er sich bewegen kann. Wir nennen ihn den Herrn, seinen Partner die Dame. Mit dieser Rollenverteilung bestimmt der Herr (später), wohin getanzt werden soll (der Herr führt, wie es so schön heißt). Er sollte also der größere und kräftigere der beiden sein. Deshalb liegt der Unterschied zwischen den beiden Partnern nur in Größe und Gewicht, das Geschlecht ist ohne Bedeutung, auch wenn das Vorurteil erwartet, dass Jungen mit Mädchen tanzen und man deshalb Paare (Mannschaften!) aus zwei Jungen oder zwei Mädchen selten sieht. Da muss man sich aber nichts draus machen. Schließlich ist es im Sport der Regelfall, dass Jungen nur mit Jungen und Mädchen nur mit Mädchen eine Mannschaft bilden. Tanzen in allen Spielarten ist der einzige Sport, wo Jungen auch mit Mädchen eine Mannschaft bilden dürfen. Ist doch toll, verbietet aber den Regelfall der anderen Sportarten nicht.

Der Herr darf die Dame nicht festhalten, das wäre Nötigung und ist vom Gesetzgeber verboten. Tanzen ist keine Nötigung. Der Herr darf die Dame aber auch nicht von sich fernhalten, etwa um seine Zehen zu besichtigen, dann wird es ja kein Paar. Die Dame soll Platz haben, aber sich auch abstützen können. Deshalb ist es am besten, wenn der Herr seinen rechten Arm rund wie einen Halbkreis trägt. Da stellt sich die Dame hinein. Wenn sie sich nun mit ihrer linken Schulter Kontakt zur rechten Hand des Herrn und mit ihrem rechten Hüftknochen Kontakt zum rechten Hüftknochen des Herrn sucht, ist alles in Ordnung. Die Ellbogen müssen weit nach außen. Das ist auf einer vollen Fläche eine Zumutung, aber wenn wir Gas geben wollen, darf die Fläche ohnehin nicht so voll sein. Wenn sich alle an die Verkehrsregeln halten (auf der Fläche darf man nicht stehenbleiben und wir benutzen die rechte Seite, auf der wir also auch nicht rückwärts tanzen), geht das wunderbar.

Vierte Übung: Lassen wir den Herrn mit seinem Vorwärtstakt beginnen, dann tanzt die Dame den Rückwärtstakt. Sofort wird klar, warum der Vorwärtstakt groß sein muss, der Rückwärtstakt aber zurückhaltend: Der vorwärts Tanzende überholt den Partner auf seiner linken und dessen rechter Seite. Beim nächsten Takt ist es die Dame, die mit ihrem Vorwärtstakt den Partner überholen muss. Vorwärts Vollgas am Partner vorbei, rückwärts sanft den Partner vorbeilassen, den Schwung nicht vergessen, wir sind am Ziel. Versuchen wir es.

Damit das Überholen leicht geht, dürfen die Partner nicht direkt voreinander stehen, sondern auf jeweils auf der rechten Seite des Partners, eben die Dame im rechten Arm des Herrn. Sie hat dann zwei feste Punkte, die sie immer fühlen muss: den rechten Hüftknochen des Herrn mit ihrem rechten Hüftknochen, und seine rechte Hand mit ihrer linken Schulter. Diesen Kontakt muss die Dame suchen. Der Herr darf ihn nicht erzwingen: Formal verbietet dies der Gesetzgeber als Nötigung, praktisch würde dies die Bewegung der Dame verhindern. Kuscheln kann ganz schön sein, aber Vollgas-Tanzen geht nicht mit Kuscheln. Das ist manchmal bedauerlich, aber nicht zu ändern. Nun gilt es nur noch, zu tanzen und wieder zu tanzen. Dann wird mit der Zeit alles glatter und ruckfreier.

Dies ist ein schematischer Blick von oben, der zeigen soll, wie sich die Dame stützen kann. Es sollte zu sehen sein, dass sich die Dame bei Linksdrehungen und der Herr bei Rechtsdrehungen einsetzen muss, und dass die Dame bei Rechtsdrehungen und der Herr bei Linksdrehungen nicht allein loslegen dürfen

Alle grundsätzlichen Fehler, die einem das Leben schwer machen, sind kein Verstoß gegen den Stil, sondern ein Verstoß gegen die Physik. Der erste ist schon angesprochen: Spannung muss in den Körper. Ein rohes Ei dreht sich nicht. Gerade müssen wir uns halten und nicht nach unten sehen. Wer nach unten sieht, schiebt die Füße nach vorn und gerät gerade deshalb in Gefahr, getreten zu werden oder den Partner zu treten. -- Der zweite Fehler: wir stehen zu sehr voreinander. Das behindert die Bewegung, erschwert die Führung und erzwingt bei unserem wechselseitigen Überholen Umwege um den Partner. Gerdeaus geht es vorwärts, wenn der Partner eben nach rechts versetzt vor uns steht. Dann erzeugt auch das Überholen die Drehung von ganz allein und wir benötigen immer weniger Krafteinsatz. Tanzen ist kein Kraftsport. Je weniger Kraft wir einsetzen müssen, desto schöner fühlt es sich an und desto schöner sieht es auch aus. Der dritte Fehler: Wir geben zu wenig Schwung, weil das Absenken im Hauptschritt nicht ernst genommen wird. Wenn eine Murmel schnell durch eine Mulde rollen soll, muss die Mulde tief genug sein. Es war eine klassische Aufgabe der Physik zu klären, wie tief die Mulde im günstigsten Fall sein muss: es ist etwa die Hälfte des Durchmessers der Mulde. In unserem Fall ist dieser Durchmesser der Doppelschritt auf den abstützenden Fuß, also etwa 120cm. Es schafft aber niemand, 60cm abzusenken, denn dann wären wir auf den Knien. Wir gewinnen durch Absenken auf dem ersten Schritt umso mehr Tempo, je tiefer wir gehen. Wir sollten auch keine Sorge haben, dass wir zu viel absenken. Bei dem Tempo, das wir gewinnen, ist das nicht nötig und geht auch ohnehin nicht. Aber etwas muss eben sein, und das richtige Maß finden wir beim Üben. Der vierte Fehler: Wir traun uns nicht, die Hüftfühlung herzustellen oder zu behalten. Dann wird wieder das Überholen ohne Umweg um den Partner oder ohne Ausweichen des Partners nicht möglich. Schon das 400 Jahre alte Relativitätsprinzip von Galileo teilt uns mit, dass die inneren Bewegungen des Paares (die sich ergebende Drehung) um so weniger gestört werden, je geradliniger und gleichförmiger es auf der weißen Linie entlang geht. Wenn der Herr seinen rechten Arm richtig rund und waagerecht hält, ist es Sache der Dame, die Hüftfühlung herzustellen und zu behalten. So richtig wichtig wird das bei den Linksdrehungen. Dies ist jedoch eine neue Geschichte.